XII. Beziehung der Atomistik zu den allgemeinsten, höchsten und letzten Dingen.

    Nachdem schon so manche Erörterungen, namentlich des vorigen Kapitels, der Erwägung vorgearbeitet haben oder darein eingegangen sind, wiefern die Atomistik sich mit unseren allgemeinen und höheren Interessen vertrage, schließen wir unsere Argumentation noch mit einigen Betrachtungen ab, geeignet ins Licht zu stellen, dass diese Verträglichkeit selbst bis zu den allgemeinsten und höchsten Interessen reicht; damit nicht nach Allem Jemand sage: was helfe es mir, wenn ich die ganze Welt gewönne und litte doch Schaden an meiner Seele.

    Leicht zeigt sich’s, der so oft und allgemein erhobene Vorwurf des Gegenteils beruht nur darauf, dass die gegnerische Philosophie die Unverträglichkeit der Atomistik mit der Weise, wie sie selbst die allgemeinsten und höchsten Interessen, zu befriedigen sucht, ohne Weiteres als eine Unverträglichkeit mit diesen Interessen selbst faßt. Und wie weit liegt doch Beides aus einander. Vielmehr würde die Atomistik umsonst versuchen, mehr im Sinne dieser Befriedigung zu leisten, als die heutige Philosophie, wenn sie ihren Wegen folgen wollte.

    Gehen wir mit einigen Worten näher auf die Punkte ein, die hierbei in Betracht kommen. Wird durch die dynamische Ansicht irgend ein Blick in eine Tiefe der Dinge eröffnet, also dass man Neues, Anderes, Feineres mehr Verborgenes dadurch erblickte, bis wohin die Atomistik nicht nachzukommen vermöchte; erscheint die Natur, der Geist, die Kraft, das Leben, die Organisation danach schöner, anmutiger, reicher, idealer, preiswürdiger, erhabener? Von all dem meine ich das Gegenteil gezeigt zu haben. Worin besteht also zuletzt der Vorzug der dynamischen und das Verbrechen der atomistischen Ansicht? dass diese den Begriff einer raumerfüllenden Kraft in der Physik nicht dulden will, dass sie Materie, Kraft und Raum überhaupt begrifflich und sachlich anders gegen einander stellt, als die dynamische Ansicht. Aber was ist denn mit jenem dynamischen Begriffe der Raumerfüllung für die Menschheit gewonnen, was hat denn diese Begriffsstellung zur Orientierung in den Erscheinungen, zur klaren Vorstellbarkeit ihres Zusammenhanges, zur Voraussicht derselben, zur Möglichkeit, sie auseinander zu folgern, beigetragen? – Worte, wogegen die Atomistik Taten aufzeigen kann.

    Nun gibt es noch Manches, ja Höheres, was über das bloße Wissensinteresse überhaupt hinaus liegt, und welchem eigentlich die Atomenfrage ziemlich fern liegt; doch weil Alles, Wissen, Glauben, Tun zuletzt zusammenhängt, nach Inhalt und Geist des Einen das Andere sich mit richten muß, so kann man freilich auch fragen, wie sich die Atomenfrage, die zunächst nur die Struktur der Körperwelt betrifft, zu den Fragen über die höchsten und letzten Dinge stellt. So weit Gott und das Atom auseinander liegt, eine Kette muß doch von einem zum anderen reichen, und wo sie von einem zum anderen nicht zu finden, kann auch eins oder das andere nicht existieren. Derselbe Geist, der durch die Atomistik geht, muß sich noch als ein Hauch desselben Geistes fassen lassen, der durch alle Himmel geht, soll sie mit Gott, soll Gott mit ihr bestehen können. Ist es der Fall? Aber ist es nötig, nochmals daran zu erinnern, dass die Atomenwelt tief unter unseren Augen am unteren Weltende nur zugleich der Widerschein und Abschluß derselben Welt ist, deren Bau im Himmel hoch über uns wir bewundern; und wenn wir in dieser das Zeugnis der Größe und Fülle göttlicher Macht und ordnenden Geistes erblicken, warum doch weniger in jener? Verträgt sich die Astronomie mit Gott, warum doch weniger die Atomistik, welche nur die Ergänzung zu jener ist, indem sie zeigt, die Natur, der Unterbau von Gott, ist nicht nur bis in größte Weiten, sie ist auch noch in Tiefen, die unser sinnlicher Blick nicht zu durchdringen vermag, ordnend ausgebaut.

    Vielleicht auch bei der Frage, ob Leib und Seele, die hienieden so fest verbunden mit einander bestehen und gehen, im selben Verbande mit einander untergehen, mag’s einen Unterschied machen, ob der Leib ein Wesen ist, das schon jetzt ohne Verband an sich nur durch Kraft und Geist zusammenhält, und immer neu in seine Einzelnheiten sich zerstreuend von Neuem sich daraus fügt, oder ob das Leibliche an sich ein Zusammenhängendes, ein Fließendes, ein Ganzes. Ich meine aber, eine je härtere Spaltung und Zerstreuung der Materie wir den Geist schon jetzt überwinden und überdauern sehen, so weniger haben wir von solcher im Tode zu besorgen. Es zeigt sich, die Spaltung und Zerstreuung der Materie selbst ist eben das, was ihm zur Knüpfung und immer neuen Knüpfung Anlaß gibt.

    Erinnern wir beim Riß des Lebens an den Riß der Körper. Im Sinne der Atomistik erweitert sich hierbei der schon vorhandene Abstand der Atome nur rasch bis zum Sichtlichen; das ist das ganze Neue; im Sinne der dynamischen Ansicht reißt die Kontinuität. So ist auch im Sinne der atomistischen Ansicht der Tod nur eine rasche Vergrößerung derselben Trennung und Zerstreuung der Atome unseres Leibes, die schon besteht und täglich vorgeht; das ist das ganze Neue. Im Sinne der dynamischen Ansicht reißt die bisherige Kontinuität. So ist die atomistische Ansicht eine Spinnerin, welche den Lebensfaden im Tode nur plötzlich lang auszieht, die dynamische eine Parze, welche ihn durchschneidet.

    Auch an die Sittlichkeits- und Freiheitsfrage mag man die Atomenfrage halten. Ich sehe nichts, und Niemand hat noch etwas gezeigt, was uns bei jenen Fragen schlimmer stellen könnte, wenn wir die materielle Welt lieber aus kraftverknüpften Einzelnheiten, als fließender Substanz bestehend denken. Vielmehr gewährt die Atomistik, indem sie das Prinzip der Individualität in der Körperwelt bis ins Unterste durchbildet, und jeden individuellen Teil bei selbsteigenster Regung doch dem allgemeinen Gesetz und Verbande sich fügen läßt, noch in der Welt des Kleinsten die schönsten erläuternden Bilder für eine gesellschaftliche Organisation und Gliederung, wo jeder Einzelne sein Recht und seine Pflicht und seine Tätigkeit nur nach der Stellung zu dem Ganzen hat. Höher kann ein Mensch es im Sittlichen gar nicht bringen, als ein Atom in seinem Verbande, nur dass er es mit Freiheit dahin bringe. Dass aber mehr Freiheit der Bewegungen statt findet, wenn jedes Teilchen einen Spielraum um sich hat, als wenn es an dem Nachbar klebt, versteht sich ohne dem, und ist die geistige Freiheit auch anderer Natur, als diese körperliche, so hat sie doch in dieser das vollkommenste Instrument.

    Diese flüchtigen Andeutungen – es schiene mir leicht, doch nutzlos, sie noch weiter auszuführen – mögen genügen, zu zeigen, dass die Atomistik sich auch über die Bedürfnisse der Physik hinaus mit allen Forderungen nicht nur wohl verträgt, sondern selbst denselben erfreulich und förderlich entgegenkommt, die wir in Betreff der höchsten und letzten Dinge stellen mögen.

    Hierbei ist nochmals zu erinnern, dass die heutige Atomistik nicht mehr die alte Atomistik, auf welche manche Vorwürfe passen mögen, die die heutige nicht mehr treffen können.

    Auch heutzutage freilich gibt es Atheisten und Unsterblichkeitsleugner unter den Atomisten; es gibt ihrer aber nicht minder unter den Gegnern derselben. Unstreitig bringt die Atomistik, wie die Naturforschung überhaupt, deren Zweig sie ist, eine Gefahr mit, Gott und was mit Gott zusammenhängt, zu verlieren für Den, der da vergißt, dass die Atomistik nur das letzte Gefüge der materiellen Welt, nicht die ideelle Einheit, Spitze und Wesenheit der Dinge betrifft, und etwa Eins über dem Anderen aus den Augen läßt oder durch das Andere beseitigt und ausgeschlossen hält. Welches Moment der Wahrheit und Wirklichkeit aber ist nicht dem ausgesetzt, dadurch zum Irrtum zu verführen, dass ihm ein alleiniges Gewicht beigelegt, die Totalität darin gesucht oder darauf gebaut wird? Von der anderen Seite gerät die Atomistik, die sich mit Gott nichts zu schaffen macht, weil das ganz außer ihrer Aufgabe liegt, viel weniger in Gefahr, Gott wegzuschaffen, oder auf einen so leeren Begriff zu reduzieren, oder in solcher Vermenschlichung aufgehen zu lassen, als die philosophischen Richtungen, welche der Atomistik den Pferdefuß andichten. So liegt die Gefahr auf jeder Seite nur an einer anderen Stelle; dort in einer Negation, hier in Positionen; was ist schlimmer? Im Grunde aber ist es weder die Schuld der Atomistik noch Philosophie, sondern des Atomistikers oder Philosophen, die Gott verlieren, oder seine Idee in Schein und Aberwitz verkehren läßt.

    Im Allgemeinen kann man wohl sagen, der Glaube an jene höchsten Ideen nimmt überhaupt die Wissenschaft vielmehr als Stab in die Hand, als dass er sich darauf wie auf einen Fuß stützte. Dass nun die Atomistik als Stab des Glaubens, falls man einen solchen sucht, mindestens so brauchbar ist, als die dynamische Ansicht, meine ich mit vorigen Andeutungen jedenfalls gezeigt zu haben; es gehört nur der Wille dazu, sie dazu zu brauchen, genügt aber auch dazu. Ein Anderer kann denselben Stab dann auch wohl brauchen, auf den Glauben loszuschlagen; es gehört auch nur der Wille dazu; die Atomistik an sich macht keinen Gott, und leugnet keinen Gott. Doch bleibe ich dabei stehen: eine atomistische Welt ist ein der erhabensten Idee von Gott würdigerer und ein unsagbar schönerer Bau, als die dynamische.

    Die dynamische Ansicht der Dinge gleicht dem Nebel, der in zusammenhängendem Schein die Gegend bedeckt, und sein Wogen und Ziehen und Fliehen den Dingen substituiert, die er verdeckt. Der zusammenhängende Nebel muß sich in unzusammenhängende Regen- und Tautropfen auflösen; daraus kommt Fruchtbarkeit und Klarheit, und die Dinge erscheinen in ihrem Glanze.