I. Einleitung.

    § 1. Unter einem Kollektivgegenstande (kurz K.-G.) verstehe ich einen Gegenstand, der aus unbestimmt vielen, nach Zufall variierenden, Exemplaren besteht, die durch einen Art- oder Gattungsbegriff zusammengehalten werden.

    So bildet der Mensch einen Kollektivgegenstand im weiteren Sinne, der Mensch von bestimmtem Geschlechte, bestimmtem Alter und bestimmter Rasse einen solchen im engeren Sinne, wie überhaupt das, was man den Umfang eines K.-G. nennen kann, sich nach der Ausdehnung des Gattungs- oder Artbegriffs, unter den er tritt, ändert.

    Die Exemplare eines K.-G. können räumlich oder zeitlich verschieden sein und hiernach einen räumlichen oder zeitlichen K.-G. bilden. So können die Rekruten eines Landes oder Ähren eines Kornfeldes als Exemplare eines räumlichen K.-G. gelten. So gibt die (mittlere) Temperatur des 1. Januar, an einem gegebenen Orte durch eine Anzahl von Jahren verfolgt, ebenso viele Exemplare eines zeitlichen K.-G.. Statt des 1. Januar kann man jeden anderen Jahrestag, statt eines bestimmten Tages einen bestimmten Monat, statt der Temperatur den Barometerstand setzen u. s. w. und wird damit Exemplare eben so vieler zeitlicher K.-G. erhalten.

    Anthropologie, Zoologie, Botanik haben es überhaupt wesentlich mit K.-G. zu tun, da es sich darin nicht um eine Charakteristik einzelner Exemplare, sondern nur um das handeln kann, was einer Gesamtheit derselben zukommt, die aus dem oder jenem Gesichtspunkte als Gattung oder Art in größerer oder geringerer Weite zusammengefaßt wird. Die Meteorologie bietet nach eben angeführten Beispielen in ihren nicht periodischen Witterungsphänomenen zahlreiche Beispiele davon dar; und selbst in der Artistik läßt sich von solchen sprechen, sofern Bücher, Visitenkarten darunter gehören.

    Die Exemplare eines K.-G. nun sind einerseits qualitativ, andererseits quantitativ, d. i. nach Maß und Zahl, bestimmt, und nur um letztere Bestimmtheit handelt es sich in der Kollektivmaßlehre. Ein K.-G. macht in der Tat hinsichtlich seiner quantitativen Bestimmtheit dieselben Ansprüche als ein einzelner Gegenstand; nur daß in gewisser (freilich nur gewisser) Hinsicht die Teile des einzelnen Gegenstandes durch die Exemplare des K.-G. vertreten werden. Gelte es z. B. Rekruten eines gegebenen Landes, so fragt es sich: wie groß sind die Rekruten im Mittel, wie stark schwanken die einzelnen Maße um ihr Mittel, wie groß sind die größten und kleinsten, wie verhalten sich die Rekrutenmaße nach diesen Bestimmungen in den einzelnen Jahrgängen, wie in verschiedenen Ländern unter einander. Solche und damit zusammenhängende, später zu betrachtende Fragen lassen sich bei jedem K.-G. aufwerfen; und sofern ein räumlicher Gegenstand verschiedene zu unterscheidende Teile und Dimensionen hat, lassen sie sich auf jeden dieser Teile und Dimensionen besonders aufwerfen, und diese sich insofern als besondere K.-G. behandeln, so Schädel, Gehirn, Hände, Füße eines Menschen, Höhe, Gewicht, Volumen des ganzen Menschen oder gegebener Teile des Menschen; aber auch quantitative Verhältnisse werden in Frage kommen, wie denn bei Vergleichung der Menschen verschiedener Rassen die Verhältnisse der mittleren Höhe, Breite, Länge des Schädels ein besonderes Interesse in Anspruch nehmen.

    § 2. Über alle diese Einzelfragen aber erhebt sich eine allgemeinere, die wichtigste, um die es sich überhaupt in dieser Lehre handeln kann und demgemäß im Folgenden handeln wird, die Frage nach dem Gesetze, wie sich die Exemplare eines K.-G. nach Maß und Zahl verteilen. Unter dem Ausdrucke Verteilung aber ist die Bestimmung zu verstehen, wie sich die Zahl der Exemplare eines gegebenen K.-G. mit ihrer Größe ändert. Bei jedem, in einer größeren Zahl von Exemplaren vorhandenen K.-G. kommen die kleinsten und größten Exemplare, kurz Extreme, am seltensten vor, am häufigsten solche von einer gewissen mittleren Größe. Aber gibt es nicht ein allgemeines, auf alle oder wenigstens die meisten K.-G. anwendbares Gesetz der Abhängigkeit der Zahl von der Größe der Exemplare? In der Tat wird sich ein solches aufstellen lassen, und eine Hauptaufgabe des Folgenden auf seine Feststellung gehen.

    Von vornherein freilich kann man bezweifeln, daß bei der außerordentlichen Verschiedenheit der K.-G. gesetzliche Verteilungsverhältnisse in einer gewissen Allgemeinheit dafür überhaupt zu finden sind. Inzwischen, da nach dem Begriffe der K.-G. ein solcher aus nach Zufall variierenden Exemplaren besteht, finden jedenfalls auch die allgemeinen Wahrscheinlichkeitsgesetze des Zufalls – und jeder Mathematiker weiß, daß es solche gibt – darauf Anwendung. In der Tat werden die Verteilungsverhältnisse der K.-G. allgemein von solchen beherrscht, indes dieselben Wahrscheinlichkeitsgesetze bei physikalischen und astronomischen Maßbestimmungen nur nebensächlich für die Sicherheitsbestimmung der erlangten Mittelmaße in Betracht kommen, hiermit hier eine ganz andere und viel unwesentlichere Rolle spielen als in der Maßlehre der K.-G.. Insofern aber der Zufall unter bestimmten, für die verschiedenen K.-G. verschiedenen, äußeren und inneren Bedingungen spielt, lassen sich, durch alle Zufälligkeiten durch, die verschiedenen K.-G. durch charakteristische, aus ihren Verteilungsverhältnissen ableitbare Konstanten unterscheiden. Diese sind es, worin die Bestimmtheit derselben gegen einander ruht; und diese gilt es mit Berücksichtigung der allgemeinen Wahrscheinlichkeitsgesetze aufzusuchen. Nun hat man schon von jeher in dieser Hinsicht den arithmetischen Mittelwert der Exemplare ins Auge gefaßt und Fleiß auf seine Bestimmung bei den verschiedenen K.-G. gewandt, daneben auch wohl noch die Extreme, seltener die mittlere Abweichung vom Mittel berücksichtigt. Aber so wichtig diese Bestimmungsstücke sind und immer bleiben werden, sind sie doch bisher zu einseitig berücksichtigt worden, indes andere, prinzipiell nicht minder wichtige, dabei außer Acht fallen.

    Insofern nun die Behandlung der K.-G. nach der Gesamtheit der vorigen Beziehungen überhaupt anderen Gesichtspunkten unterliegt und andere Bestimmungsweisen mitführt, als bei physikalischen und astronomischen Maßnahmen in Rücksicht kommen, kann die Maßlehre der K.-G., oder sagen wir kurz Kollektivmaßlehre, als eine Lehre ihrer Art besonders aufgestellt und behandelt werden, und wird dies folgends zur Aufgabe gemacht werden.

    Da in unseren Begriff der K.-G. der Begriff einer zufälligen Variation der Exemplare eingeht, kann man vorweg eine Definition des Zufalls und Erklärung über sein Wesen wünschen. Der Versuch, eine solche aus philosophischem Gesichtspunkte zu geben, würde aber für die folgende Untersuchung wenig fruchten. Es muß hier genügen, den, für das Folgende zu Grunde gelegten, faktischen Gesichtspunkt von mehr negativem als positivem Charakter dafür anzugeben. Unter einer zufälligen Variation der Exemplare verstehe ich eine solche, welche ebenso unabhängig von einer auf die Größenbestimmung gehenden Willkür, als von einer die Größenverhältnisse dazwischen regelnden Naturgesetzlichkeit ist. Mag die eine oder andere an den Bestimmungen der Gegenstände Anteil haben, so sind doch zufällig nur die davon unabhängigen Veränderungen. Daher kann durch kein Zufallsgesetz bestimmt werden, wie groß dieses oder jenes einzelne Exemplar ist, obwohl, in welchen Größengrenzen sich eine gegebene Zahl derselben mit diesem oder jenem Grade der Wahrscheinlichkeit halten wird.

    Damit wird nicht geleugnet, daß es aus allgemeinstem Gesichtspunkte keinen Zufall gibt, indem durch die bestehenden Naturgesetze unter den bestehenden Bedingungen die Größe jedes einzelnen Exemplares mit Notwendigkeit als bestimmt angesehen werden kann. Aber wir sprechen so lange von Zufall, als wir zu einer Ableitung der Einzelbestimmungen aus solchen allgemeinen Gesetzlichkeiten weder aufzusteigen, noch aus den vorliegenden Tatsachen darauf zu schließen im stande sind. Insoweit es der Fall ist, hört der Zufall auf, und hört die Anwendbarkeit der hier vorzuführenden Gesetze auf oder wird dadurch gestört.