Die Schnelligkeit des Lernens von Silbenreihen
als Funktion der Länge derselben.
§ 19. Versuche der späteren Periode.
Es ist hinreichend bekannt, dass die Einprägung
von Vorstellungsreihen, die zu einer bestimmten späteren Zeit reproduziert
werden sollen, um so schwieriger ist, je länger die Reihen sind. Das
heißt, diese Einprägung erfordert nicht nur absolut genommen
mehr Zeit bei größerer Länge der Reihen, weil eben jede
Wiederholung länger dauert, sondern sie beansprucht auch verhältnismäßig
mehr Zeit, weil eine wachsende Anzahl von Wiederholungen nötig wird.
Sechs Verse eines Gedichtes kosten, um gelernt zu werden, nicht nur dreimal
soviel Zeit wie zwei, sondern erheblich mehr.
Ich habe dieses Abhängigkeitsverhältnis,
welches sich natürlich auch bei der ebenmöglichen Reproduktion
sinnloser Silbenreihen geltend macht, nicht eigens untersucht, aber beiläufig
dafür einige Zahlen gewonnen, die, ohne besonders interessante
Beziehungen darzubieten, immerhin der Mitteilung wert sind.
Die in Betracht gezogenen Reihen umfaßten
(bei den Versuchen der Jahre 1883/84) je 12, 16, 24 oder 36 Silben, und
zwar waren hierbei je 9, 6, 3 oder 2 Reihen jedesmal zu einem Versuch zusammengefaßt.
Für die Anzahl von Wiederholungen, welche in
diesen Fällen nötig waren, um die Reihen bis zur ersten fehlerfreien
Reproduktion (diese mitgerechnet) zu lernen, fanden sich folgende Zahlen:
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Um die Anzahl der Wiederholungen vergleichbarer zu machen, muß man sie, sozusagen, auf einen Generalnenner bringen und jedesmal durch die Zahl der Reihen dividieren. Man erfährt so, wieviel Wiederholungen verhältnismäßig nötig waren, um einzelne Reihen gerade auswendig zu lernen, die sich nur durch die Zahl der Silben von einander unterschieden und jedesmal mit soviel anderen derselben Art zusammengenommen waren, dass die Dauer des ganzen Versuchs 15–30 Minuten betrug1).
Anzahl der Silben einer Reihe | Anzahl der bis zum ersten fehlerfreien Hersagen (excl.) erforderlichen Wiederholungen | Wahrscheinlicher Fehler |
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Den regelmäßigen Gang dieser – für die geringe Zahl der Versuche ziemlich sicheren – Zahlen veranschaulicht die größere der nebenstehenden beiden Kurven. Wie sie zeigt, wuchs in den untersuchten Fällen die Anzahl der Wiederholungen, die für das Lernen von Reihen mit zunehmend größerer Silbenzahl nötig waren, außerordentlich schnell mit der Zunahme der Silben. Namentlich zuerst ist der Anstieg der Kurve ein sehr steiler, weiterhin scheint er sich allmählich zu verflachen. Zur Bewältigung des Fünffachen von derjenigen Silbenzahl, die gerade noch nach einmaligem Durchlesen (d. h. etwa nach 3 Sekunden) reproduziert werden konnte, waren über 50 Wiederholungen notwendig, welche die ununterbrochene und anstrengende Arbeit einer Viertelstunde in Anspruch nahmen.
§ 20. Versuche der früheren Periode.
Selbstverständlich haben die mitgeteilten –
an einem einzigen Individuum gewonnenen Zahlen – auch nur für dieses
eine Individuum Bedeutung. Es fragt sich, ob sie nun auch wenigstens für
dieses Individuum von genereller Bedeutung sind, also bei Wiederholung
der Versuche zu anderen Zeiten in annähernd ähnlicher Größe
und Gruppierung wieder erwartet werden dürfen oder nicht.
Eine Reihe von Versuchsresultaten der älteren
Periode gibt die erwünschte Möglichkeit einer Kontrolle in dieser
Richtung. Dieselben sind wiederum beiläufig gewonnen (also unbeeinflußt
durch Erwartungen und Voraussetzungen), und zwar aus Versuchen, die unter
etwas anderen Umständen angestellt sind als die eben mitgeteilten.
Die Tageszeit war eine frühere, außerdem wurde das Lernen fortgesetzt,
bis die einzelne Reihe zwei Mal hintereinander ohne Fehler hergesagt
werden konnte. Ein Versuch umfaßte
15 Reihen von je 10 Silben
oder 8 "
" " 13 "
" 6 "
" " 16 "
" 4 "
" " 19 "
Es sind also wiederum 4 verschiedene Reihenlängen
in Betracht gezogen, dieselben liegen aber auf einer viel kürzeren
Strecke zusammengedrängt.
Da die Wiederholungen – auf die es hier ankommt
– in der älteren Periode überhaupt nicht gezählt wurden,
so mußte ihre Anzahl aus den Zeiten berechnet werden. Dazu ist die
oben (§ 15) mitgeteilte Tabelle, nach entsprechender Interpolation,
benutzt worden. Werden die gefundenen Zahlen gleich auf je eine Reihe reduziert
und dabei die beiden Wiederholungen, welche das Hersagen ausmachen, wie
oben, abgezogen, so ergibt sich:
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§ 21. Steigerung der Schnelligkeit des Lernens bei sinnvollem Material.
Um auf die Gleichförmigkeiten und Verschiedenheiten
zwischen sinnlosem und sinnvollem Material aufmerksam zu werden, habe ich
gelegentlich, wie schon erwähnt, Lernversuche mit Byrons Don Juan
(mit dem englischen Original) angestellt. Dieselben gehören insofern
nicht eigentlich hierher, als ich bei ihnen die Länge des jedesmal
zusammengefaßten Quantums nicht variiert habe, sondern immer nur
einzelne Stanzen auswendig lernte. Indes die Angabe der hierzu erforderlich
gewesenen Anzahl von Wiederholungen ist durch ihren Kontrast mit den eben
mitgeteilten Zahlen auch an und für sich interessant.
In Betracht kommen nur 7 Versuche (1884), deren
jeder 6 Stanzen umfaßte. Wurden diese, jede für sich, bis zur
erstmöglichen Reproduktion gelernt, so waren für alle 6 zusammen
durchschnittlich 52 Wiederholungen (wm = ± 0,6) nötig.
Für jede Stanze ergibt das knapp 9, oder, nach Abzug der Wiederholung
für das Hersagen, knapp 8 Wiederholungen3).
Erwägt man, dass jede Stanze 80 Silben umfaßt, (die allerdings
durchschnittlich etwas weniger als 3 Buchstaben zählen dürften),
so gewinnt man durch Vergleichung der jetzt gefundenen Zahl von Wiederholungen
mit den obigen einen wenigstens ungefähren numerischen Ausdruck
für die außerordentliche Begünstigung, welche der Einprägung
von Reihen durch die vereinigten Bande des Sinnes, des Rhythmus, des Reims
und der Zugehörigkeit zu einer einzigen Sprache zu Teil wird. Denkt
man sich unsere obige Kurve in der Krümmung, die sie einzuschlagen
scheint, noch eine Strecke fortgeführt, so muß man voraussetzen,
dass ich sinnlose Reihen von 70–80 Silben nach 70–80maliger Wiederholung
auswendig hersagen könnte. Waren die Silben durch die eben erwähnten
Fäden äußerlich und innerlich aneinander gekettet, so reduzierte
sich also dieses Erfordernis für mich auf etwa 1/10
seines Betrages.