I.

Unser Wissen über das Gedächtnis.

§ l. Das Gedächtnis in seinen Wirkungen.

    Indem die Sprache des Lebens sowohl wie der Wissenschaft der Seele ein Gedächtnis beilegt, will sie einen Tatbestand und eine Auffassung desselben bezeichnen, die sich etwa folgendermaßen beschreiben lassen.
    Psychische Zustände jeder Art, Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, die irgendwann einmal vorhanden waren und dann dem Bewußtsein entschwanden, haben damit nicht absolut aufgehört zu existieren. Obschon der nach innen gewandte Blick sie auf keine Weise mehr finden mag, sind sie doch nicht schlechterdings vernichtet und annulliert worden, sondern leben in gewisser Weise weiter, aufbewahrt, wie man sagt, im Gedächtnis. Freilich können wir dieses ihr gegenwärtiges Dasein nicht direkt beobachten, aber mit derselben Sicherheit wie die Fortexistenz der Gestirne unter dem Horizont läßt sich auch die ihre erschließen aus den Wirkungen, die davon zu unserer Kenntnis kommen. Diese sind von verschiedener Art.
    Erstens können wir in zahlreichen Fällen die anscheinend verlorenen Zustände (oder doch, falls diese z. B. in unmittelbaren Wahrnehmungen bestanden, ihre getreuen Phantasiebilder) durch eine darauf gerichtete Anstrengung des Willens ins Bewußtsein zurückrufen, wir können sie willkürlich reproduzieren. Bei den Versuchen dazu, dem Besinnen, treten zwar nebenher allerlei Gebilde ans Licht, auf die unsere Absicht nicht gerichtet war, oft genug auch verfehlt die letztere ihr Ziel gänzlich, aber im allgemeinen findet sich unter den Resultaten auch dasjenige, welches wir suchten und nun unmittelbar als das früher Dagewesene wieder erkennen. Es wäre absurd, anzunehmen, dass unser Wille es ganz von neuem und gleichsam aus dem Nichts geschaffen habe, es muß vielmehr irgendwie und irgendwo noch vorhanden gewesen sein; der Wille hat es sozusagen nur aufgefunden und uns wieder vorgeführt.
    In einer zweiten Gruppe von Fällen zeigt sich dieses Nachleben fast noch frappanter. Die einmal bewußt gewesenen Zustände kehren nämlich oft, und oft noch nach Jahren, ohne jedes Zutun des Willens, scheinbar von selbst ins Bewußtsein zurück, sie werden unwillkürlich reproduziert. Meist erkennen wir auch hier unmittelbar das Wiedergekehrte als ein früher Dagewesenes, wir erinnern uns seiner; unter Umständen aber fehlt dieses begleitende Bewußtsein, wir wissen dann nur mittelbar, dass das Jetzige identisch sein müsse mit einem Früheren, erhalten dadurch aber nicht minder einen vollgültigen Beweis für seine Fortexistenz in der Zwischenzeit. Wie die genauere Beobachtung dabei lehrt, geschehen diese unwillkürlichen Reproduktionen nicht ganz beliebig und zufällig. Vielmehr werden sie veranlaßt und verursacht durch andere, jetzt gerade gegenwärtige, psychische Gebilde, und zwar in gewissen regelmäßigen Weisen, die in den sogenannten Assoziations-Gesetzen in allgemeinen Zügen beschrieben werden.
    Endlich kann noch eine dritte reiche Gruppe von Erscheinungen hierher gerechnet werden. Die entschwundenen Zustände geben auch dann noch zweifellose Beweise ihrer dauernden Nachwirkung, wenn sie selbst gar nicht, oder wenigstens gerade jetzt nicht, ins Bewußtsein zurückkehren. Die Beschäftigung mit einem gewissen Gedankenkreise erleichtert unter Umständen die spätere Beschäftigung mit einem ähnlichen Gedankenkreise, auch wenn jene erste weder in ihrer Methode noch in ihren Resultaten direkt vor die Seele tritt. Das unermeßliche Gebiet der Wirkung angesammelter Erfahrungen gehört hierher. Dieselbe beruht darauf, dass irgendwelche Zustände oder Vorgänge sehr häufig bewußt verwirklicht wurden. Sie besteht in der Erleichterung des Eintritts und Ablaufs ähnlicher Vorgänge. Aber diese Wirkung ist nicht daran gebunden, dass nun die die Erfahrung konstituierenden Momente sämtlich wieder in das Bewußtsein zurückkehren. Dies kann mit einem Teil derselben nebenbei auch der Fall sein; in zu großer Ausdehnung und mit zu großer Klarheit darf es nicht geschehen, sonst wird der Ablauf des gegenwärtigen Vorgangs geradezu gestört. Der größere Teil des Erfahrenen bleibt dem Bewußtsein verborgen und entfaltet doch eine bedeutende und seine Fortexistenz dokumentierende Wirkung.

§ 2. Das Gedächtnis in seiner Abhängigkeit.

    Den Kenntnissen von dem Dasein des Gedächtnisses und seinen Wirkungen geht zur Seite ein mannigfaltiges Wissen um die Bedingungen, von denen die Intensität des inneren Nachlebens, sowie die Treue und Promptheit der Reproduktionen sich abhängig zeigen.
    Wie verschieden verhalten sich die verschiedenen Individuen in dieser Beziehung! Nicht nur verglichen mit anderen behält und reproduziert dieser gut, jener schlecht, sondern auch verglichen mit sich selbst jeder anders in anderen Phasen seines Daseins; verschieden am Morgen und am Abend, in der Jugend und im Alter.
    Von erheblichem Einfluß ist die Verschiedenheit des Inhalts des Reproduzierten. Melodien können zur Qual werden durch die unerwünschte Hartnäckigkeit ihrer Wiederkehr. Formen und Farben pflegen sich nicht gerade aufzudrängen; und wenn sie sich wieder einstellen, geschieht es mit merklicher Einbuße an Deutlichkeit und Sicherheit. Der Musiker schreibt für Orchester nieder was die inneren Stimmen ihm zusingen; der Maler verläßt sich selten ohne Nachteil ganz auf das innerlich Angeschaute, er schafft nach der Natur und kombiniert nach Studien. Vergangene Gefühlszustände endlich vergegenwärtigt man sich fast mit Mühe, in ziemlich blassen Schemen und oft nur durch die sie begleitenden Bewegungen. Gefühlswahrer Gesang ist seltener als korrekter Gesang.
    Nimmt man die beiden vorigen Gesichtspunkte zusammen – das Verhalten verschiedener Individuen zu verschiedenen Inhalten –, so zeigen sich unendliche Differenzen. Der eine strömt über von poetischen Reminiszenzen, der andere dirigiert Symphonien aus dem Kopfe, während Zahlen und Formeln, die dem dritten fast ohne sein Zutun anfliegen, von jenen abgleiten wie von poliertem Stein.
    Außerordentlich groß ist die Abhängigkeit des Behaltens und Reproduzierens von der Intensität der Aufmerksamkeit und des Interesses, welche sich bei dem ersten Dasein der psychischen Zustände an diese hefteten. Das gebrannte Kind scheut das Feuer und der geschlagene Hund den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfahrung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe ihrer Haare oder Augen besinnen zu können.
    Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind häufige Wiederholungen unerläßlich, damit die Reproduktion eines Inhalts möglich sei. Vokabeln, größere Gedichte, Reden vermag man hei größter Anspannung und Begabung nicht durch einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Repetition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Reproduktionen an Sicherheit und Leichtigkeit.
    Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet doch Einbuße an ihr durch den Einfluß der Zeit. Von der Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt.

§ 3. Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das Gedächtnis.

    Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Gedächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm einfügen ließen: "wer schnell lernt, vergißt auch schnell", "relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ kurze", "der alternde Mensch vergißt das Spätestgelernte am schnellsten" u. s. w.; sie pflegt namentlich das Bild reichlich mit Beispielen oder auch Anekdoten auszumalen. Allein – worauf es hier ankommt – bei der weitestgehenden Detaillierung unseres Wissens, zu der wir imstande sind, behält alles, was wir sagen können, den unbestimmten, allgemeinen, komparativen Charakter der oben angeführten Sätze. Unsere Kenntnis stammt fast ausschließlich aus der Beobachtung extremer, besonders frappanter Fälle. Wir vermögen diese in allgemeiner Weise und in den vagen Ausdrücken des Mehr und Minder ganz zutreffend zu beschreiben und setzen – wiederum ganz zutreffend – voraus, dass sich bei dem nicht besonders auffallenden, aber tausendfach häufigeren alltäglichen Wirken des Gedächtnisses dieselben Einflüsse in abgeschwächter Weise geltend machen werden. Aber treibt man die Neugier weiter und verlangt speziellere Aufschlüsse über das Detail der aufgezählten und anderer Abhängigkeitsbeziehungen, über ihre innere Struktur sozusagen, so verstummen die Antworten. In welcher Weise hängt das Schwinden der Reproduzierbarkeit, das Vergessen, von der Länge der Zeit ab, innerhalb deren keine Wiederholungen stattfanden? In welchem Grade nimmt die Sicherheit der Reproduktionen zu mit der Anzahl jener Wiederholungen? Wie ändern sich diese Beziehungen bei verstärkter oder verminderter Intensität des Interesses an den reproduzierbaren Gebilden? Das und dergleichen vermag niemand zu sagen.
    Und zwar besteht dieses Unvermögen nicht etwa deshalb, weil diese Verhältnisse zufällig noch nicht untersucht sind, aber morgen, oder wann man sich die Zeit dazu nähme, untersucht werden könnten. Sondern man fühlt unmittelbar aus den Fragen heraus, dass zwar die in ihnen enthaltenen Vorstellungen von Graden des Vergessens, der Sicherheit, des Interesses ganz korrekte sind, dass uns aber die Mittel fehlen, in unseren Erfahrungen solche Grade anders als in den gröbsten Extremen und ohne jeden Anspruch auf genaue Begrenzung festzustellen, dass wir also zur Vornahme jener Untersuchungen gar nicht imstande sind. Unsere an gewissen frappierenden Erfahrungen gebildeten Begriffe vermögen wir in der Masse der mit jenen gleichartigen aber minder auffallenden Erfahrungen nicht verwirklicht zu finden; und umgekehrt: manche Begriffe, die uns zum Eindringen in das Detail der Tatsachen und zur theoretischen Beherrschung derselben dienlich und unentbehrlich sein würden, haben wir vermutlich noch nicht gebildet.
    Denn diese beiden, die Erkenntnis des Einzelnen und die theoretische Verarbeitung desselben, hängen wechselseitig von einander ab, sie wachsen an und durch einander; und weil unser ganzes Wissen so unbestimmt und wenig spezialisiert ist, deshalb ist es auch für ein eigentliches Verständnis, eine Theorie der Gedächtnis-, Reproduktions- und Assoziationsvorgänge bisher so unfruchtbar geblieben. Bei unseren Vorstellungen z. B. über ihre körperlichen Grundlagen bedienen wir uns verschiedener Metaphern, von aufgespeicherten Vorstellungen, eingegrabenen Bildern, ausgefahrenen Geleisen u. s. w., von denen nur das eine ganz sicher ist, dass sie nicht zutreffen.
    Natürlich hat das Bestehen aller dieser Mängel seine vollkommen zureichende Begründung in der außerordentlichen Schwierigkeit und den Verwickelungen der Sache, und es steht dahin, ob wir trotz der klarsten Einsicht in das Unzulängliche unseres Wissens jemals wesentlich weiter kommen können. Vielleicht bleiben wir zu dauernder Resignation gezwungen. Allein eine etwas größere Zugänglichkeit, als man bisher verwertet hat, läßt sich dem Gebiete, wie ich sogleich dazutun hoffe, nicht absprechen. Wenn sich aber irgendwie ein Weg zu tieferem Eindringen zeigt, dann wird man, bei der Bedeutung des Gedächtnislebens für alles psychische Geschehen, auch wünschen müssen, dass er einmal betreten werde. Denn schlimmsten Falls wird man jene Resignation lieber dem Scheitern ernstgemeinter Untersuchungen als dem dauernden ratlosen Staunen vor ihren Schwierigkeiten entspringen sehen.