FESTVORTRAG

DES DIREKTORS DER SEKTION PSYCHOLOGIE

DER KARL-MARX-UNIVERSITÄT

Prof. Dr. habil. MANFRED VORWERG

"WILHELM WUNDT - ERBE UND GEGENWART"

Als Wilhelm Wundt am 20. November 1875 vor der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig den Eid auf den König ablegte, war er 43 Jahre alt. Er hatte in Tübingen und Heidelberg von 1851 bis 1855 studiert und dabei Vorlesungen in Anatomie, Astrologie, Chemie, Ästhetik, Physiologie, Physik, Botanik und organische Chemie gehört. In der Heidelberger Zeit konzentrierte er sich auf Anatomie, Physiologie und Chemie. Die Arbeiten auf dem Gebiet der Chemie bei Bunsen haben sein Interesse für das naturwissenschaftliche Experiment geweckt. Im Jahre 1855 legt er in Karlsruhe das medizinische Staatsexamen ab. In den darauffolgenden Jahren finden wir Wundt als Assistenten bei Ewald Hasse in der Heidelberger Klinik und als Hospitanten bei Johannes Müller und Emil Du BoisReymond in Berlin, um Physiologie zu lernen. Er habilitierte sich im Jahre 1857 in Heidelberg, wo er von da an bis 1864 Privatdozent an der Medizinischen Fakultät war. In dieser Zeit wird er von 1858 bis 1863 Assistent bei Helmholtz. Seine Publikationsliste umfaßt bis zur Berufung zum a. o. Professor für Anthropologie und medizinische Psychologie an der Universität Heidelberg im Jahre 1864 bereits 51 Titel, darunter die "Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung", die 1862 erschienen und in denen die ersten systematischen Grundlagen für seine Auffassung der Psychologie als Naturwissenschaft gelegt sind. Auch die erste Auflage der "Vorlesungen über die Menschen und Tierseele" aus dem Jahre 1863, in der programmatische theoretische Äußerungen für die zu begründende Wissenschaft zu finden sind, lag vor. In dieser Periode begann auch seine politische Tätigkeit als Vorsitzender des Heidelberger Arbeiterbildungsvereins, die 1862 begann und von ihm 1868 auf eigenen Wunsch beendet wurde, weil seine bürgerlich-liberale Gesinnung es ihm nicht erlaubte, das inzwischen erstarkte und kampfbereite Klassenbewußtsein der Arbeiter zu unterstützen.

Als a. o. Professor der Heidelberger Universität war er dagegen in der Zeit von 1864 bis 1868 als Abgeordneter des Badischen Landtages und besonders in der Kommission für akademische und Schulgesetzgebung aktiver. Am deutsch-französischen Krieg hat er als Militärarzt teilgenommen. Ein Jahr vor seiner Berufung nach Leipzig war er einem Ruf an die Universität Zürich auf den Lehrstuhl von Friedrich Albert Lange als dessen Nachfolger gefolgt. Lange kannte er, wie August Bebel und Karl Biedermann, aus gemeinsamer Arbeit im Heidelberger Arbeiterbildungsverein.

Leipzig hatte ihn bei seiner ersten Begegnung mit dieser Stadt eher traurig gestimmt und deprimiert; er kam schließlich aus einer schönen Landschaft mit einem freundlichen Menschenschlag. Auch die Fakultät hatte, wie die Universität kein sonderliches Interesse an seiner Person bekundet. Er erhielt ein sehr geringes Gehalt, auf dessen angemessene Erhöhung er lange warten mußte. Aber: er hatte die Möglichkeit an der damals führenden Universität Deutschlands zu arbeiten, einer Universität, an der er unmittelbaren Kontakt mit Gelehrten von Weltgeltung pflegen konnte; einer Universität, an der vielleicht wegen des relativen Desinteresses, das man seinem Wirken anfangs entgegenbrachte die Institutionalisierung der Psychologie und deren Start für den Siegeslauf um die Welt gelingen konnte. Diese Universität hat ihn im Jahre 1889/90 zu ihrem Rektor auserwählt, ein Zeichen für die Anerkennung, die er sich inzwischen als Gelehrter erworben hatte. Am Beginn seiner Amtszeit als Rektor umfaßte seine Publikationsliste bereits 323 Titel; der 323. war sein "System der Philosophie". Auch andere wichtige Arbeiten waren bis dahin erschienen: 4 Bände der "Philosophischen Studien"; die "Grundzüge der physiologischen Psychologie" hatten die dritte Auflage erlebt; seine "Ethik" war 1886 erschienen.

Wilhelm Wundt hat für seine Tätigkeit in Leipzig zahlreiche Ehrungen erfahren. Nachdem ihn die Psychologische Gesellschaft in Moskau als erste ausländische Vereinigung im Jahre 1888 zu ihrem Ehrenmitglied ernannt hatte, folgten viele andere Gesellschaften; insgesamt war Wundt Mitglied bzw. Ehrenmitglied in 29 in und ausländischen wissenschaftlichen Gremien, darunter der Akademien der Wissenschaften in Petersburg, Wien und New York, sowie wissenschaftlicher Gesellschaften in Budapest, Edinburgh und Philadelphia. Im Jahre 1902 machte ihn die Stadt Leipzig zu ihrem Ehrenbürger, und 1907 folgte die Ehrenbürgerschaft der Stadt Mannheim, in deren Nähe er am 16. August 1832 geboren worden war. 1917 trat Wundt in den Ruhestand und verstarb am 31. 8. 1920 in Großbothen bei Leipzig, nachdem er die 53 735. Seite in seinem Leben geschrieben hatte. Es handelte sich um die letzte Seite seiner Memoiren "Erlebtes und Erkanntes", die im gleichen Jahre publiziert vorlagen.

Es charakterisiert die Persönlichkeit dieses Mannes, wenn wir feststellen, daß er trotz großartiger Leistungen auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft seiner Zeit, insbesondere der Psychologie, und trotz der zahlreichen Ehrungen, die ihm zuteil geworden sind, stets ein zurückhaltender und bescheidener Mensch mit freundlichem Gemüt und von bestechender Sachlichkeit geblieben ist. Sein Schüler und Nachfolger im Amt, Felix Krueger, hat ihn anläßlich einer Würdigungsschrift im Jahre 1922 treffend charakterisiert, indem er schreibt: "In seinen Vorlesungen, seinen Büchern, pflegte er zu verschweigen, wieviel er selbst zur Berichtigung der Fragestellungen, zur Verbesserung der Methoden, zur Vertiefung der Einsichten beigetragen hatte. Noch auf der Höhe seines Ruhmes sah er ungern seine Person in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Ein durchaus sachlicher Grundzug war seinem Werk wie seinem Wesen eigentümlich; ..." Sachlichkeit sei bei ihm bis zur Genialität gesteigert gewesen. (Krueger, 1922; S. l).

Wenn wir uns mit ihm und seinen Leistungen, mit den von ihm für die Wissenschaftsentwicklung, besonders aber für die Entwicklung der Psychologie erbrachten Beiträgen befassen, dann tun wir das nicht aus bloßer Pietät einem bedeutendem Manne seiner Zeit gegenüber. Wir machen das auch nicht, weil wir die Neigung hätten, anläßlich von Jahrestagen uns an Vorläufer neugierig zu erinnern. Allerdings teilen wir auch nicht die Auffassung von Goethe, die er in seinen "Maximen und Reflexionen" vertritt, derzufolge man sich durch die Beschäftigung mit der Geschichte dieselbe "vom Halse schaffen" könne. Wie auch könnte sich ein Psychologe, und besonders hier aus Leipzig, Wundt "vom Halse schaffen"?

Vielmehr vertreten wir gegenüber der eigenen Geschichte und auch der Geschichte dieser Institution, deren 100jährige Existenz wir in diesen Tagen begehen, einen durchaus konstruktiven Standpunkt. Klarheit über die eigene Herkunft einer Disziplin festigt nicht nur die Sicherheit in Sachfragen und das Bewußtsein der eigenen Würde; sie hilft auch zum Verständnis gegenwärtiger Problematik wesentlich beizutragen. Theoretisches Denken in der Psychologie ist unmöglich, ohne Kenntnis ihrer jahrhundertelangen Entwicklung. Das Wirken großer Vertreter unseres Faches, von denen Wundt einer der bedeutendsten war, kann uns Aufschluß geben über konstruktive Leistungen und Irrtümer, über Fortschritte und Hemmnisse, die sie für die Entwicklung gebracht haben. Die Beschäftigung mit unserer eigenen Vergangenheit und mit den Beiträgen der Männer, die sie wesentlich gestaltet haben, zeigt uns nicht nur ihre enge Verwurzelung im Denken ihrer Zeit und ihr Handeln im Interesse ihrer Gesellschaft, sie hat auch einen selbständigen Bildungswert. Das alles meinen wir, wenn wir dem Internationalen Symposium zu Ehren des 100. Jahrestages der Gründung unserer Einrichtung den sicher anspruchsvollen Titel "Wilhelm Wundt - progressives Erbe, Wissenschaftsentwicklung und Gegenwart" gegeben haben. Das Thema ist Programm und zugleich Haltung zu unserer eigenen Vergangenheit.

Wenige Jahre nach seiner Berufung nach Leipzig hatte Wundt, wie der sowjetische Psychologiehistoriker Jaroschewski (1975) schrieb, Leipzig zum "Mekka der Anhänger der neuen Wissenschaft" gemacht. Unter den vielen Enthusiasten der neuen Wissenschaft waren so bedeutende Männer wie Ernst Kraepelin, Oswald Külpe, Alfred Vierkandt, Ernst Meumann, um einige der deutschen zu nennen; zu den ausländischen Personen, die hier unter der Leitung von Wundt forschten, gehören Matsumoto (Japan), Tschelpanow und Nikolai Lange (Rußland), Friedrich Kiesow (Italien), Ernst Dürr (Schweiz), D. N. Usnadse (Georgien). Usnadse hat zwar bei Ziehen in Halle promoviert und sich später grundlegend mit Auffassungen der "Würzburger Schule" auseinandergesetzt sowie wichtige Anregungen aus dieser Denkweise empfangen; Experimentieren aber hat er bei Wundt gelernt. Er wurde später der Mitbegründer der Georgischen Akademie der Wissenschaften der UdSSR und der Direktor des inzwischen weltberühmten Psychologischen Institutes dieser Akademie. Die Spezifik des sowjetischen psychologischen Denkens ist ohne die von Usnadse begründete Georgische Psychologenschule nicht vollständig beschreibbar.

Besonders groß war die Zahl der US-amerikanischen Gelehrten, die bei Wundt gelernt hatten: An erster Stelle ist hier G. Stanley Hall zu nennen, der der erste US-amerikanische Wundtschüler war und als erster einen Doktortitel in Psychologie erwarb. Das war, 1878 an der Harvard University. Hall gründete im Jahre 1883 an der Johns Hopkins University das erste amerikanische psychologische Laboratorium, und er war der Begründer des "American Journal of Psychology" und der erste Präsident der "American Psychological Association". Zu den Schülern Wundts, die die US-amerikanische Psychologie sehr stark beeinflußt haben gehört auch J. McK. Cattell, der der erste Psychologie-Professor der USA war; dazu gehören Titchener, Scott und L. Witmer, der die erste psychologische Klinik der Welt an der University of Pensylvania gegründet hat. Es gehört dazu auch Münsterberg, der aus Deutschland in die Vereinigten Staaten ging, um dort als Begründer der Psychotechnik die praktischen Einflußmöglichkeiten der neuen Wissenschaften auf das industrielle Leben zu demonstrieren. 13 weitere US-amerikanische Schüler Wundts sind bekannt, unter ihnen G. M. Stratton, der bei Wundt promovierte und das von ihm äußerst selten vergebene Prädikat "sehr gut" für seine Dissertation erhalten hatte.

Die Rolle der amerikanischen WundtSchüler für die Verbreitung der Psychologie ist prototypisch für die industriell entwickelten Länder der damaligen Zeit. Sie alle beriefen sich auf Wundt oder entwickelten die neue Wissenschaft in Kontradiktion zu ihm, wie James und Münsterberg.

Die Frage, ob Wundt eine neue Wissenschaft begründet hat, muß aufgeteilt werden in drei Fragen:

1. Handelt es sich um eine Wissenschaft?

2. Ist sie neu?

3. Hat Wundt diese Wissenschaft begründet?

Menschliche Erkenntnisse werden dann als Wissenschaft bezeichnet, wenn sie über einen Wirklichkeitsbereich ein System von Erkenntnissen über die wesentlichen Eigenschaften, kausalen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten darstellen. Die Erkenntnisse müssen in Form von Begriffen, Kategorien, Maßbestimmungen, Gesetzen, Theorien und Hypothesen fixiert sein. Unter pragmatischem Aspekt müssen die so geordneten Erkenntnisse Grundlage der menschlichen Tätigkeit zur Beherrschung der natürlichen und sozialen Umwelt des Menschen sein. Wissenschaftliche Tätigkeit muß institutionalisiert sein, damit diese pragmatische Funktion realisiert werden kann und wissenschaftliche Spezialisten ebenso ausgebildet werden können, wie durch Publikationsorgane die jeweilige Wissenschaftsdisziplin verbreitet und deren Ergebnisse kommuniziert werden müssen.

Wundt hat eine großartige Leistung dadurch vollbracht, daß er diese Institutionalisierung möglich machte. Er nutzte dazu seine Stellung als ordentlicher Professor einer etablierten Disziplin. Hilfreich war ihm auch die Tatsache, daß philosophisches Denken an den deutschen Universitäten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in Eklektizismus pervertierte.

Die Institutionalisierung der Psychologie an einer der führenden akademischen Einrichtungen der Welt, der ersten Universität Deutschlands der damaligen Zeit, ermöglichte die Ausbildung von tatkräftigen jungen Akademikern. Leipzig war seinerzeit nicht nur ein "Mekka der Psychologie". Hier lehrten Weber und Fechner. Hier brachte Ostwald seinen Namen zu Weltgeltung und Karl Brandau Mollweide und August Ferdinand Möbius führten die Mathematik in Leipzig zu internationaler Anerkennung.

Die Leipziger Universität trat in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vor allem durch ihre Forschungsergebnisse in der Sprachwissenschaft und in der Universalgeschichte hervor. Mit der Berufung Karl Lamprechts 1891 begann für die Geschichtswissenschaft eine echte Blütezeit (vgl. Keller, 1978). Lamprecht und Wundt waren persönlich befreundet, und beide haben den Gedanken der Kultur und Sozialgeschichte in ihren Werken umgesetzt: Lamprecht in seinen 19 Bänden der Deutschen Geschichte und Wundt in den 10 Bänden seiner Völkerpsychologie.

Die klinische Medizin wurde durch Wunderlich reformiert; die Gynäkologie durch Credé. Der Physiologe Carl Ludwig war 1865 nach Leipzig berufen worden. Ein materialistischer Wissenschaftler mit bahnbrechenden Resultaten für die Hirnforschung, Neurologie und Psychiatrie war Paul Flechsig, der 1882 die Nervenklinik der Leipziger Universität gründete (Karl-Marx-Universität, 1978). So herrschte an dieser Universität ein Geist der Erneuerung der Wissenschaften.

Wundt konnte mit seinem Anliegen direkt an dieser Entwicklung teilnehmen. In der Reihe von Neugründungen von Instituten, Laboratorien und Kliniken war das Laboratorium für experimentelle Psychologie nur eines unter anderen, damals wichtigeren. Es war nichts Auffälliges daran an dieser Universität. So klagte Wundt in seinen Lebenserinnerungen (Wundt, 1921), daß er 40 Jahre gebraucht habe, um die materielle Ausstattung seines Institutes so zu erreichen, wie es ihm in den Tagen der Gründung vorgeschwebt habe und wie es für die Arbeitsfähigkeit seiner Einrichtung von Anfang an nötig gewesen wäre. Zwar wurde die Anlage des Laboratoriums als mustergültige Untersuchungsstelle auf Wunsch des königlichpreußischen Unterrichtsministeriums von Wundt für die Weltausstellung in Chicago beschrieben, daß in diesem Laboratorium aber über die Grundausstattung hinausgehende Geräte für Experimente von seinen Mitarbeitern selbst finanziert werden mußten, ist dabei nicht bekannt geworden (vgl. Wundt, 1910).

Der Etat für Geräte lag in den ersten Jahren zwischen 600 und 900 Mark und hatte sich bis 1910 auf etwa 2000 Mark erhöht. 1883 erhielt Wundt die ersten Staatszuschüsse für seine experimentelle Arbeit, und es wurde l Assistentenstelle genehmigt. Erst elf Jahre später, 1894, erhielt er eine zweite staatlich finanzierte Assistentenstelle.

Allerdings war die räumliche Ausstattung, die das Institut nach dem Umzug in den zweiten Stock des Hauses Grimmaischer Steinweg 12 mit seinen elf Räumen hatte, recht gut. 1896 gab es dann mit dem Umzug in den Verbindungstrakt zwischen Johanneum und Paulineum des Hauptgebäudes der Universität mit 15 Räumen und zwei Hörsälen, von denen einer 98 und der andere 490 Plätze hatte, eine weitere vorläufig endgültige Verbesserung der Arbeitsbedingungen des Institutes.

Eine große Rolle bei der Institutionalisierung der Psychologie haben auch die "Philosophischen Studien" gespielt, die in 20 Bänden von 1883 bis 1903 erschienen sind sowie die 10 Bände "Psychologische Studien", die an deren Stelle ab 1905 die Arbeiten des Institutes publizierten. Der Schwerpunkt der Publikationen in der ersten Hälfte dieser Periode lag auf den Gebieten der Psychophysik und Sinnespsychologie, während in der zweiten Hälfte dieser Periode öfter auch Arbeiten zu den sogenannten "höheren psychischen Prozessen" wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Gefühle und Affekte erschienen. Im ganzen ist jedoch die Orientierung auf Psychophysik und Sinnespsychologie weitaus auffälliger. Von den bei Wundt (1910) selbst ausgezählten und zugeordneten 103 Arbeiten dieser Publikationsreihen gehören 75 dieser Arbeitsrichtung an, während nur 28 den komplexeren Problemen der Psychologie gewidmet sind.

In diesen Gründerjahren neuer wissenschaftlicher Disziplinen finden wir nicht nur in der Psychologie das Phänomen, demzufolge die "berühmten" Gründer die jeweils neue Disziplin nicht frei und selbständig erfunden haben. Die neuen Disziplinen waren Folge und Voraussetzung der Differenzierung der Wissenschaften, die ihre gesellschaftlichen Wurzeln in den konkreten Bedingungen des Deutschlands der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts hatte. Zu diesen Voraussetzungen gehört ein bestimmtes geistiges Klima, das seine Wurzeln in der Produktionsweise hat, von der die Produktivkräfte ihrerseits auch selbständige Quelle für die Differenzierung der Einzelwissenschaften sind. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang vor Augen führen, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland eine umfassende Industrialisierung einsetzt (vgl. Eckardt, 1979). Die Dampfmaschine tritt ihren Siegeslauf in allen Bereichen der Wirtschaft an; es wird eine Schwerindustrie von bedeutendem Ausmaße aufgebaut. Neue Industriezweige werden geschaffen: z. B. die chemische Industrie, die Elektroindustrie. Mit dieser Entwicklung ist ein rascher Konzentrationsprozeß des Kapitals verbunden. Es werden Banken mit erheblichen Kapitaleinlagen gegründet, und es entstehen leistungsfähige Aktiengesellschaften. Der nationale und internationale Handel entwickelt sich. Die Leipziger Messe wird von einer Warenmesse zur ersten Mustermesse der Welt umgestaltet. Dieser Aufschwung der Industrie war begleitet von einer ebenso stürmischen Entwicklung der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften in Deutschland. Nie hatte Wissenschaft in diesem Lande in der vorsozialistischen Zeit bessere Verwertungsbedingungen ihrer Erkenntnisse als in dieser Periode. Infolgedessen veränderte sich in diesem Zusammenhang die gesellschaftliche Funktion der deutschen Universität. "Humboldts Vorstellung von der Wissenschaft als höchstem Bildungswert, konzipiert zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wird am Ende des Jahrhunderts durch die Auffassung der Wissenschaft als materielle Gewalt weitgehend beiseite geschoben" (Rühle, 1966, S. 132). Marx analysierte diese Umwandlung als Zeitgenosse und schrieb in den "Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie" (Marx, 1974, S. 592 und 594): "In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit .., sondern vielmehr . . . vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion . . .

Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, . . ., zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen . . .".

"Die fortschreitende Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise korreliert also mit der fortschreitenden Umwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft. Diesen Umwandlungsprozeß darf man sich allerdings nicht einseitig als einen der Wissenschaft von außen auferlegten Zwang vorstellen, sondern die Wissenschaften selbst schufen aus sich selbst heraus die Voraussetzungen für ihre Umwandlung in eine unmittelbare Produktivkraft. Die fundamentalen Erfindungen und Entdeckungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, insbesondere der Chemie und der Physik (Elektrizität, Magnetismus, Thermodynamik usw.) waren geradezu dazu prädestiniert, die kapitalistische Produktionsweise in Indutrie und Landwirtschaft entscheidend umzugestalten und die Einführung neuer Produktionstechniken zu beschleunigen" (Eckardt, 1979, S. 94f). Allerdings hatten die deutschen Universitäten keinen direkten und unmittelbaren Anteil, jedenfalls nicht in großem Maßstab, an dieser Entwicklung, was ein Grund für die Krise der Universität als Institution in dieser Zeit war. An den Universitäten wurden aber die Voraussetzungen und Bedingungen für die Verwertung von Wissenschaft in Produktivkraft geschaffen, indem Entdeckungen gemacht, Gesetze formuliert und Kader ausgebildet wurden, die die geforderte Umsetzung in industrielle Praxis vorzunehmen geeignet waren.

Dies alles nun beförderte die Differenzierung der Wissenschaften. Vom Standpunkt der innerlogischen wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung aus betrachtet, hängt die Nötigung zur Differenzierung von den Entdeckungen ab, die in dieser Zeit gemacht wurden. Deshalb finden wir in allen Fällen, so auch in der Psychologie, daß die wichtigsten Erkenntnisse und Denkweisen der neuen Disziplin bereits relativ fertig vorlagen, bevor sich eine neue Wissenschaft als solche artikulierte. Für die Psychologie waren das eine beachtliche Menge, die Wundt für seine schöpferische Synthese zu einer Disziplin mit eigenem Gegenstand und eigenen Kategorien vorfand. Folgt man der Analyse von Metge (1977), so handelt es sich hinsichtlich des verfügbaren Grundbestandes an einschlägigen gesicherten Erkenntnissen um die folgenden:

1. Ergebnisse der Sinnesphysiologie, erarbeitet durch Purkinje, Goethe, Johannes Müller, Ernst Heinrich Weber, Hering, Helmholtz und Fechner, gingen direkt in Problemstellungen der Psychologie ein. Dabei waren die wichtigsten verbunden mit der Entdeckung gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen Außenreizen, Nervenerregung und Empfindung. Diese kommen zum Ausdruck

im Weber-Fechnerschen Gesetz

im Gesetz der spezifischen Sinnesenergien

in der Theorie der Raumwahrnehmung

in der Theorie der Zeitwahrnehmung

 

2. Entdeckung gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen dem Psychischen und seinen organischen Grundlagen sowie des reflektorischen Charakters der Nerventätigkeit und ihrer hierarchischen Organisation und in diesem Zusammenhang die Entdeckung von Gesetzmäßigkeiten psychischer Vorgänge, wie unbewußter Schlüsse und der Logik der Wahrnehmungsprozesse.

3. Entdeckung der Anwendbarkeit naturwissenschaftlicher, vor allem physikalischer und physiologischer Experimentiermethoden in der psychologischen Forschung und der Möglichkeit, psychische Phänomene quantitativ erfassen zu können.

Metge (1977, S. 156 ff) schreibt: "Die Herausbildung der Experimentalpsychologie war . . . durch die Autorität der Naturwissenschaft gewissermaßen abgesichert, von denen sie ihr methodisches Rüstzeug erhielt.

Die verschiedenen fruchtbaren Ansätze zur Entwicklung einer Theorie und Methodik experimentalpsychologischer Forschung führten jedoch nicht zur Konstituierung eines selbständigen Wissensgebietes, sondern verstanden sich als naturwissenschaftliche Forschungsrichtungen außerhalb der Philosophie. Wilhelm Wundt, als Arzt und Physiologe ausgebildet,... , war selbst maßgebend an der wahrnehmungspsychologischen Experimentalforschung in physiologischen Laboratorien von den ersten Anfängen an beteiligt. Im Unterschied zu Helmholtz und anderen Physiologen bestimmte Wundt den Gegenstand der experimentellen Forschung im Grenzbereich Physiologie Psychologie, vor allem im Gebiet von Empfindungen und Wahrnehmungen, als psychologischen. Unter diesem Gesichtspunkt und in Auswertung der Fechnerschen Psychophysik forderte er schon 1862, das Experiment nach dem Vorbild der Naturwissenschaften zur Untersuchung psychischer Erscheinungen umfassend einzusetzen. Bereits fünf Jahre später, in seiner Arbeit "Neuere Leistungen auf dem Gebiete der physiologischen Psychologie" findet sich ein weiterer Ansatz Wundts, Ergebnisse der experimentalphysiologischen Forschung zu psychologischen Problemen zu verarbeiten. Über die Gegenstandsbestimmung experimentalpsychologischer Forschung hinaus besteht jedoch die entscheidene Leistung Wundts nicht allein darin, alle Ansätze und Ergebnisse dieser Untersuchungen zusammengetragen und systematisch zu einem Kompendium der Experimentalpsychologie verarbeitet zu haben. Sein Anspruch war eine "neue Wissenschaft". Damit befand er sich in krassem Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen. Fechner beispielsweise, der viel für die psychologische Kenntnisgewinnung geleistet hat, war der Auffassung, daß das Objekt solcher Untersuchungen ein Institut nicht rechtfertige, da es den Gegenstand seiner Forschungen in wenigen Jahren erschöpft haben würde (Klemm, 1922, S. 106).

Die grundlegenden Auffassungen, die Wundt dieser neuen Wissenschaft zugrunde legte, waren (Metge, 1977; S. 159 f):

1. Die Betrachtung der Psychologie als Erfahrungswissenschaft und die damit verbundene Abkehr von metaphysischer Spekulation; mit dem Erfahrungsbegriff hatte er allerdings auch die Möglichkeit geschaffen, später zu subjektividealistischen Positionen überzugehen, ohne die Grundlagen seiner Auffassungen wesentlich ändern zu müssen.

2. Die Erklärung des Psychischen als eines Entwicklungsprozesses, wobei er dialektische Denkansätze erkennen ließ, die er später in seiner Völkerpsychologie auch auf geistige und gesellschaftliche Erscheinungen ausdehnte, wenngleich er dabei psychologisierend vorging.

3. Die Interpretation des Psychischen als eines sowohl aus inneren psychologischen Bestimmungsgründen als auch durch den physiologischen Mechanismus der Hirntätigkeit determinierten Prozeß; eine Auffassung, die er später zugunsten eines reinen Parallelismus aufgab, was bekanntlich Häckel (1960) an ihm kritisierte (vgl. Meischner, 1979).

4. Die Charakterisierung des Psychischen in seiner besonderen Qualität und Eigengesetzlichkeit; was vielleicht seine bedeutendste theoretische Leistung für die Begründung der neuen Wissenschaft war und woran er sein Leben lang festgehalten hat (vgl. Vorwerg, 1975; Sprung, 1979).

5. Die Möglichkeit, Psychisches zu erforschen, sah Wundt in der Anwendung der Experimentalmethodik und der Statistik. Diesen Standpunkt hat er später zugunsten seiner historischbeschreibenden Methode der Völkerpsychologie insofern relativiert als er höhere psychische Prozesse experimentell als unzulänglich vermutete. Das ist schließlich auch der tiefere Grund für seinen Methodenstreit mit der Würzburger Schule, der nie konstruktiv beendet wurde.

6. Das Prinzip, in der Selbstauffassung des Menschen das Fundament aller Erkenntnis zu sehen. Damit hat er eine theoretische Begründung für die Methode der Selbstbeobachtung in der Psychologie gegeben, die verbunden mit experimenteller Methodik zur Grundlage der Erkenntnis der inneren Erfahrung wurde, die er für das spezifische Objekt psychologischer Forschung hielt.

Das sind seine konstruktiven Leistungen. Daneben finden wir theoretische Positionen, die von Anfang an den Keim für die idealistischen Entgleisungen seiner Psychologie und der seiner Nachfolger darstellen könnten. Es handelt sich um die Auffassung des Psychischen als eines geschlossenen Systems mit autonomer Entwicklung und dessen logizistische Interpretation. Die damit verbundene Auffassung der Psychologie als der Grundlage aller Geisteswissenschaften führte ihn mit logischer Konsequenz zum Postulat des "Idealrealismus", der sich über den Widerspruch zwischen Materialismus und Idealismus zu erheben und ihn damit zu überwinden vorgab.

Wundts wesentliche Leistungen bestehen also in der Synthese (vgl. Hiebsch, 1979) des vorhandenen einschlägigen Wissens, deren theoretischer Verallgemeinerung, ihrer forschenden Vermehrung und Verbreitung sowie in der Institutionalisierung der neuen Disziplin. Wenn wir also die eingangs gestellten Fragen nach der Leistung Wundts bei der Begründung der Psychologie explizite beantworten wollen, können wir sagen: Er hat das verstreute Wissen seiner Zeit über den Zusammenhang von äußerer Stimulierung, physiologischem Prozeß und zugehöriger subjektiver Abbildung systematisiert, verallgemeinert, in Theorie und Gesetzen formuliert, also in ein einheitliches Konzept gebracht, demnach nicht nur synthetisiert. Er hat damit, im Unterschied zu vielen Forschern dieser Zeit, die sich den gleichen Gegenständen gewidmet hatten, tatsächlich eine neue Wissenschaft begründet und nicht nur für deren Verbreitung gewirkt und deren Erkenntnisse vermehrt, sondern auch für deren Verteidigung und Anerkennung geistreich gekämpft (Wundt, 1885). Das ist sein progressives Erbe, dem wir uns verpflichtet fühlen und wofür wir ihn ehren. Das hindert uns nicht, seine Irrtümer zu erkennen und uns gegebenenfalls damit auseinanderzusetzen, um schließlich auch daraus Lehren zu ziehen. Wichtiger für die Gegenwart ist uns aber der konstruktive, der die Dinge klar durchschauende Wundt, der für die wissenschaftliche Wahrheit eintrat.

Er hat im Verlaufe seines Lebens, gerechnet vom 21. Lebensjahre an, wie seine Tochter Eleonore Wundt ermittelt hat, nicht nur wöchentlich knapp 15 Seiten geschrieben und es zu einer Bibliografie seiner Werke von insgesamt 540 Positionen (vgl. Meischner und Metge, 1979) gebracht, er hat auch viele Hörer gehabt. Es sollen im Verlaufe der Jahre etwa 24 000 gewesen sein. Ebenso hartnäckig hat er um die Ausstattung und Finanzierung seines Institutes gerungen. Die archivierten Akten belegen ein ununterbrochenes Bemühen um staatliche Zuschüsse, die jedoch nie in dem Ausmaße bewilligt wurden, wie er sie für die Arbeit nötig gehabt hätte. Wenngleich dieser vielseitige und klare Denker viele seiner Werke, insbesondere der ersten Periode seiner Leipziger Zeit, anderen Gegenständen wie der Logik, der Philosophie, der Rechtswissenschaft und Religion, der Sprachwissenschaft und Ethik (vgl. Heft 2/79 der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, sowie die "Beiträge zur Wundt Forschung I und II"; Wissenschaftliche Beiträge der Karl-Marx-Universität Leipzig) gewidmet hat, so darf doch gesagt werden, daß er mit Recht der "Vater der Psychologie" genannt wurde. Keine der Disziplinen, denen er sich forschend in der Regel unter historischem und entwicklungstheoretischem Aspekt gewidmet hatte, hat derartig nachwirkende Impulse von ihm erhalten wie die Psychologie. Die Rechtschaffenheit seiner Person, die Klarheit seiner Denkweise, seine didaktischen Fähigkeiten, sein politisches Interesse und seine Freundlichkeit, die Zuneigung erkennen ließ, auch wo sie Distanz wahrte, alles das sind Bedingungen, die Wundt als Person zu seiner Rolle für die Begründung dieser Disziplin prädestinierten. Er war nicht nur ein kenntnisreicher und geschickter Experimentator, er zählte auch zu den an Umfang und Tiefe gebildetsten Persönlichkeiten des Bürgertums seiner Zeit. Und wenn man bedenkt, daß sein Leben vom Todesjahr Goethes (1832) bis hinter die Große Sozialistische Oktoberrevolution und die auch in Deutschland an Klassenkämpfen reichen Jahre nach der Novemberrevolution reichte (er starb im Jahre 1920), dann wird klar, daß dieser Mann in der Öffentlichkeit und im persönlichen Leben vor Entscheidungen gestanden hat, die Charakterstärke ebenso erforderten wie ständige Überprüfung der eigenen Standpunkte und Gesinnungen. Die Geschichte des "Institutes für experimentelle Psychologie", das mit Genehmigung des Sächsischen Volksbildungsministeriums im Jahre 1925 die Bezeichnung "Psychologisches Institut" erhielt, ist nach dem Ausscheiden Wilhelm Wundts sehr wechselvoll gewesen (vgl. Thiermann, 1980). Die hier einsetzende Entwicklungsetappe endet mit der völligen materiellen Zerstörung, wissenschaftlichen Bedeutungslosigkeit und geistigen Zerrüttung am Ende des 2. Weltkrieges. Gemeinhin wird angenommen, die Zerstörung des Institutes durch Bomben im Jahre 1943, die die völlige Vernichtung aller Räume, aller Geräte und eines Teils der wertvollen Bibliothek zur Folge hatte, sei das Ende der großen Bedeutung dieses Institutes gewesen. Das ist nicht ganz so! Die "Zerstörung" dieser weltberühmten Einrichtung begann mit dem Ausscheiden Wundts aus seinem Amt. Wilhelm Wirth, der wegen der sehr großen Studentenzahlen und des hohen Alters von Wundt seit 1908 Mitdirektor des Institutes war, scheidet mit der Direktoratsübernahme durch Felix Krueger im Jahre 1917 aus dem Institut aus. Mit ihm wird die Abteilung Psychophysik des Institutes ausgegliedert und unter seiner Leitung verselbständigt. Damit war die wesentliche materialistische und exakter naturwissenschaftlich orientierter Forschung verpflichtete Denk und Untersuchungsweise verloren. Felix Krueger entwickelt die sogenannte Leipziger Strukturpsychologische Schule, die in ihren theoretischen Annahmen und ihren methodischen Realisierungen eine in den Grundlagen irrationalistische Position vertrat, und die so zwar der seinerzeit in Deutschland als Reaktion auf die Große Sozialistische Oktoberrevolution und die revolutionären Ereignisse im eigenen Lande zunehmend verbreiteten existentialistischen Denkweise dienlich war, jedoch gerade deshalb keine wissenschaftlichen Leistungen von bleibendem Wert hervorbrachte. Die Kruegersche Denkweise hatte jedoch im Unterschied zum gewöhnlichen Irrationalismus eine romantisch treudeutsche Färbung, und sie war deshalb besonders gut geeignet, von der nationalsozialistischen Ideologie als pseudowissenschaftliche Rechtfertigung genutzt zu werden. Felix Krueger, in seiner politischen Haltung ein konservativer Deutsch-Nationaler, hat nicht nur mit seinem wissenschaftlichen Denken deutschvölkische Ideologie gefördert; er hat mit großem persönlichen Einsatz nach eigenem Zeugnis die national-sozialistische Idee und deren Partei durch öffentliches Bekenntnis und Abstimmung als dem deutschen Wesen angemessen und deutscher Haltung zum Aufbruch verhelfend, wirksam gefördert. In seinen Reden auf den Kongressen der Gesellschaft für Psychologie in den Jahren 1933, 1934 und 1936 hat Krueger nicht etwa über wissenschaftliche Leistungen berichtet, wie das dem Direktor eines Leipziger Institutes angestanden hätte, vielmehr verherrlichte er die Machthaber und besonders die Person Hitlers. Und alles dies geschah zu einer Zeit, in der seine Berufskollegen in anderen Instituten aus rassischen und politischen Gründen ihre Lebens und Wirkungsstätten verlassen mußten: Kurt Lewin, Wolfgang Köhler, Wilhelm Peters und viele andere bedeutende Gelehrte. Während die Psychologen Selz und Hut in faschistischen Konzentrationslagern vergast wurden, stritten die Leipziger Psychologen um die Machtpositionen im Institut. Das Zerwürfnis Felix Kruegers mit den Nazis, das im Jahre 1936 einsetzte, hing nicht mit einem Gesinnungswandel dieses Mannes zusammen.

Wenn man nach Bleibendem aus dem Leipziger Institut in dieser Zeit fragt, dann sind es nicht wissenschaftliche Leistungen, sind es nicht charakterstarke Wissenschaftlerpersönlichkeiten, sind es nicht aufrichtige Gesinnung, auf die wir uns berufen könnten. Was bleibt, ist die teuer erkaufte Lehre davon, wohin Wissenschaft geraten kann, wenn sie reaktionärer Ideologie zum Opfer fällt und dem geistigen Terror sowie der politischen Barbarei dienstbar gemacht wird. Nach dem Ausscheiden von Krueger aus dem Institut übernehmen nacheinander Otto Klemm (kommissarisch 1938) und Hans Volkelt (im Auftrage 1939) die Leitung des Institutes. Nachdem im Oktober 1939 der lebensphilosophisch orientierte "verstehende Psychologe" Philipp Lersch das Direktorat übernommen hatte, wird mit Wirkung vom l. Oktober dieses Jahres die Abteilung für Entwicklungspsychologie vom Institut abgetrennt und in ein selbständiges Pädagogisch-psychologisches Institut unter der Leitung von Hans Volkelt umgewandelt. Lersch ging 1942 nach München, wo er auch nach dem Kriege bis zu seiner Emeritierung wirkte. Das Direktorat übernahm danach der von der Theologie herkommende langjährige, nun kriegsuntaugliche, Herrespsychologe Johannes Rudert. Er leitete das Institut bis 1945. Am vierten Dezember 1943 wurde das Institut materiell durch Bomben zerstört, nachdem es geistig und wissenschaftlich lange vorher vernichtet worden war. Am l. 12. 1944 bestand das wissenschaftliche Personal des Instituts aus dem Direktor, einer Assistentin und einer wissenschaftlichen Hilfskraft. Nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus und der Befreiung unseres Volkes durch die Sowjetunion und die anderen Alliierten gab es zunächst verschiedene Interimslösungen, die jedoch keine wirkliche Wende in der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit des Institutes brachten. Erst 1952 mit der Berufung von Ernst Struck, einem aufrechten Antifaschisten und Sozialisten war es möglich, eine wirksame Veränderung im Denken und Handeln der inzwischen wieder vergrößerten Zahl von in der Hauptsache jungen Psychologen einzuleiten. Prof. Struck, der erste Nachkriegsrektor der Universität Rostock, brachte mit seiner fortschrittlichen Gesinnung vor allem die Achtung vor der sowjetischen Psychologie in dieses Haus. Sein aufrechter Charakter und sein glühender Patriotismus, der in emotional tief verwurzeltem Internationalismus ruhte, war eine wichtige Voraussetzung für die Erziehung einer neuen Psychologengeneration in unserer Einrichtung. Er war der erste, der Wissenschaftler und Studenten mit den Ergebnissen sowjetischer psychologischer Forschung bekannt machte und so die Voraussetzungen für materialistisches Denken bei einer suchenden Generation schaffen half. 1954 verstarb er, noch bevor er seine weitreichenden Pläne für die Erneuerung des Institutes so recht in Angriff nehmen konnte. Er hatte aber den Grundstein zu neuem Denken und dem Volke verbundener Arbeit in den Herzen und Hirnen von uns allen gelegt.

Werner Fischel, der danach aus der Bundesrepublik Deutschland kommend von 1955 bis 1965 die Leitung des Institutes hatte, sah deshalb auch seine vornehmste Aufgabe in der qualifizierten Ausbildung und Erziehung eben dieser neuen Generation von Psychologen. Neben seinen eigenen weit über die Grenzen unseres Landes hinaus bekannten tierpsychologischen Forschungen, förderte er alle progressiven Ansätze einer neuen Psychologie, die sich hier auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus und in Auswertung der Ergebnisse sowjetischer psychologischer Forschung zu entwickeln begannen. In dieser Zeit waren zahlreiche Assistenten und Studenten an diesem Institut, die heute zu den führenden Psychologen unserer Republik gehören. Freilich waren die mit dieser Entwicklung verbundenen Probleme oft nicht leicht zu lösen. Es fehlte lange Jahre an dem notwendigen wissenschaftlichen Kontakt mit der übrigen Welt. Die materiellen Voraussetzungen für Lehre und Forschung konnten nur in beschränktem Umfange verfügbar gemacht werden. Es gab erhebliche Störungen, insbesondere ideologischer Art, aus dem Westen Deutschlands; und mancher ist diesen Einflüssen erlegen. Die Gegner der sozialistischen Entwicklung unseres Landes haben auch im Bereiche der Psychologie nichts unversucht gelassen, uns den Weg zu verstellen. Daneben hinderte uns Unerfahrenheit oft, die richtigen Wege einzuschlagen. Prof. Fischel hat dabei und gegenüber scheinmarxistischen physiologischen Denkweisen viel Geduld und erzieherisches Geschick bewiesen und so manchen Pfahl gesteckt, der uns den richtigen Weg markieren konnte. Die jungen Mitarbeiter des Institutes und viele seiner besten Studenten haben so in gemeinsamer Arbeit einen für das Institut und unser Land wichtigen Weg gebahnt. Eine hervorragende Rolle hat dabei der damalige Dozent Dr. Hans Hiebsch gespielt, der später das Institut für Psychologie der Universität Jena übernahm. Auch andere Namen wären noch zu nennen. Dieses Jahrzehnt hat die Arbeitsfähigkeit des Institutes wieder hergestellt und die Grundlagen geschaffen, Psychologie auf den progressiven Traditionen der deutschen und ausländischen Psychologie zu betreiben und dem Aufbau einer neuen Gesellschaft in unserem Lande zu dienen.

Unter der Leitung von Adolf Kossakowski konnte das Institut dann auch, ausgehend von gefestigten wissenschaftlichen und politischen Positionen in den Jahren von 1965 bis 1968 und später als Bereich Psychologie in der Sektion Pädagogik/Psychologie unter der wissenschaftlichen Leitung von Günther Clauss wesentliche Fortschritte erzielen. Mitarbeiter des Hauses wurden mit ihren Arbeiten im In und Ausland bekannt, es entwickelten sich enge Beziehungen mit den übrigen psychologischen Einrichtungen der DDR, und es wurden mehr als tausend Pädagogische Psychologen ausgebildet, die wichtige Aufgaben beim Aufbau unserer Gesellschaft zu übernehmen hatten. Die Pädagogische Psychologie war die erste Fachrichtung, die sich hier in Leipzig wieder zu Leistungsfähigkeit entwickelte.

Am 3. April 1975 wurde dann die Sektion Psychologie gegründet, die in ihrem Ausbildungsprofil auch Klinische Psychologie hat und die vor allem ihr Forschungsprofil neben der Psychologie des Lernens und Lehrens auf den Gebieten der Allgemeinen und Persönlichkeitspsychologie sowie der Psychodiagnostik entwickelt. Es sind in einem eigenen Gebäude nun auch wichtige gerätetechnische Voraussetzungen für diese Arbeit vorhanden. Die Zahl der Mitarbeiter der Sektion hat sich seit ihrer Gründung vervierfacht, so daß wir jetzt, was die personelle Kapazität angeht, die größte psychologische Ausbildungs und Forschungseinrichtung unseres Landes sind. Wir bemühen uns nicht nur in der experimentellen und empirischen Forschung und in unseren theoretischen Arbeiten sowie in der Ausbildung von Studenten im Direktstudium und im Nebenfachstudium in 12 Ausbildungsformen, die progressiven Traditionen unseres Hauses zu pflegen und vielleicht auch zu mehren. Auch die direkte Traditionspflege ist uns ein inneres Anliegen. Die Sektion verfügt über ein neu eingerichtetes Wundt-Gedenkzimmer, bemüht sich um die Aufarbeitung des WundtArchives und stellt den Kern der Mitglieder des interdisziplinären Arbeitskreises WundtForschung unserer Universität. Jährlich empfangen wir zur Bereicherung unserer eigenen Arbeit hervorragende ausländische Kollegen auf dem Wilhelm-Wundt-Lehrstuhl, den wir seit 1975 an der Sektion haben.

Es ist uns gelungen, mit unserer Arbeit der Leipziger psychologischen Einrichtung wieder einen Namen mit gutem Klang zu geben. Partei und Regierung unterstützen nicht nur die Entwicklung der Psychologie in der DDR und besonders in Leipzig sehr nachhaltig, sie schätzen auch unsere Beiträge, die wir zur sozialistischen Entwicklung unseres Landes und zur Beförderung der Humanität in dieser Welt leisten. Wenn sich Wundt (1921) beklagen mußte, daß die Leipziger Universität ihm und seinem Anliegen anfangs wenig Interesse entgegenbrachte, so können wir heute mit Freude und Dankbarkeit von der besonderen Aufmerksamkeit berichten, die der Rektor unserer Universität, Nationalpreisträger Magnifizenz Prof. Dr. Lothar Rathmann, und die Leitung der Universität der Entwicklung unseres Faches angedeihen lassen.

Die Sektion hat zahlreiche Arbeitskontakte mit Institutionen in aller Welt, und wir arbeiten sehr eng mit Einrichtungen in sozialistischen Ländern zusammen. Persönliche Freundschaft und wissenschaftliche Arbeitsvereinbarungen verbinden uns mit manchem leistungsfähigen Institut, besonders mit Einrichtungen in der UdSSR.

So können wir heute mit einem guten Gewissen vor diese internationale Festversammlung treten und erklären, daß das progressive Erbe unserer Psychologie und die konstruktiven Absichten Wilhelm Wundts in guten Händen sind und daß wir die wissenschaftliche und politische Verantwortung für dieses unser Erbe übernommen haben.